Martin Amanshauser

Nonntal für Anfänger

Ein Parcours

In die Stadt oder nach Nonntal?, hieß es in meiner Jugend. Salzburg bestand für mich aus zwei Teilen: einerseits die Stadt, also die Innenstadt, an der Nordseite des Festungsbergs. Andererseits Nonntal, an der Südseite, dort, wo wir wohnten, dort, wohin sich Touristen nur verirrten, um nach dem Weg zur Festung zu fragen, die sie zu unserem Ärger immer „Burg“ nannten, und zwar kontinuierlich.

Jahr für Jahr, Generation für Generation, lernten sie nichts dazu, sagten „Burg“ statt „Festung“, und man fragte sich, wo sie alle diesen falschen Ausdruck gelernt hatten. Die Gebildeteren unter ihnen nahmen eventuell Festung in den Mund, aber in der Variante „Festung Hohensalzburg“, ein Begriff, der mir immer pathetisch und lächerlich vorkam. Die Festung brauchte keinen verlängerten Namen. Dass sie sich am höchsten Punkt von Salzburg befand, verstand sich von selbst.

Die verirrten Burgsucher wurden von uns nicht korrigiert, sie wurden lediglich auf die richtigen Wege verwiesen, so wie man entgleiste Autos etwas genervt auf die Carrerabahn zurückstellt. Darüber hinaus hatten wir wenig mit ihnen zu tun. Wir in Nonntal – nicht im Nonntal, sondern in Nonntal – fristeten eine Existenz im Hinterhof des Tourismus, auf der Rückseite desselben. Unsere Aufgabe schien weniger darin zu bestehen, uns am Fremdenverkehr zu beteiligen, als ihn, sobald er in falsche Bahnen geriet, in die richtigen zu lenken. Das konnte man leicht tun, indem man den Menschen den (für uns grotesk selbstverständlichen) Weg zur Festung, oder eben Burg, zeigte, und das war dann auch schon alles, was einen mit ihnen und mit der Geldmacherei auf der anderen Seite des Festungsbergs verband.

Ich war immer genau mit Buchstaben und Wörtern, und als ich schreiben lernte, irritierte mich, dass man Nonntal nicht Nohntal schrieb, wie wir es eben aussprachen, bis heute habe ich den vagen Eindruck eines Rechtschreibfehlers, wenn ich Nonntal schreibe. Das Nonntal ist kein Tal, sondern eben der flache Bereich auf der Hinterseite des Festungsbergs, der uns, den Südlichen, den Nonntalern, immer wie der Vorderteil erschien, umso mehr, als er im von der Sonne begünstigten Süden lag, während die Stadt mit ihren Fremdenverkehrseinrichtungen sich aus unserer Perspektive hinten befand. Das spiegelte natürlich nur eine maßlose Überschätzung der eigenen Bedeutung. Doch in meinem persönlichen geographischen Bewusstsein half mir das, die Vorstadt Nonntal, die alle hinten wähnten, vorne zu nennen.

Auf dem Festungsberg, direkt oberhalb von Nonntal, eben auf unserer Vorder- und der offiziellen Rückseite, liegt das Stift Nonnberg, das wir nicht Stift Nohnberg nannten, sondern Nonnberg oder Kloster Nonnberg. Es handelt sich um das älteste Frauenkloster der Welt, das durchgehend in Betrieb ist, seit dem 8. Jahrhundert. Ein Erlebnis waren die süßen Stimmen der scheuen Klosterschwestern im Frauenkloster, die ihre Choräle sangen, und die sich dabei, wie mir meine Großmutter erzählte, nie betrachten ließen, also ganz im Gegenteil zu den egomanischen Karajan-Weltstars, die hinten in der Stadt in aller Öffentlichkeit und ohne Scham ihre fleischlich-blutigen Opern aufführten. In diesem Kloster unterrichtete in den Zwanziger Jahren eine gewisse Maria Augusta als Erzieherin, die Vorlage für die Figur der Mutter im Film „Sound of Music“, die später einen Trapp heiratete und Maria Augusta Trapp wurde. Unter dem Kloster lag die sogenannte Erentrudis-Schanze, benannt nach der ersten Äbtissin, eine Befestigungsanlage, die mich enttäuschte, weil ich sie mit den einzigen Schanzen verglich, die mir bekannt waren, jenen der Vierschanzentournee zwischen Weihnachten und den Heiligen Drei Königen, bei denen Karl Schnabl, Toni Innauer und Willy Pürstl sprangen. Was mich aber wirklich berührte, das war der kleine Friedhof vor dem Kloster. Meine Großmutter zeigte mir ein Grab, in dem ein Mädchen aus dem Bekanntenkreis lag, das von einem Obus getötet worden war. Bei jedem Besuch standen wir minutenlang vor diesem Grab, und meine Großmutter erläuterte den Obusunfall. Es war die effektivste Verkehrserziehung meines Lebens.

Geographisch – das wissen nur wenige, am wenigsten die Einheimischen – besteht Nonntal aus dem Inneren und dem Äußeren Nonntal, und außerdem einem autonomen Gebiet namens „Freisaal“, das fast ein Drittel der Gesamtfläche ausmacht. Für uns war Freisaal bereits Teil einer anderen Welt, jener, die zum Tiergarten Hellbrunn führte, und auch das Äußere Nonntal empfanden wir nur widerstrebend als Teil von Nonntal. Eigentlich zählte nur das Innere Nonntal, sozusagen das Kernnonntal, das sich am Fuß des Festungsbergs entlang der Nonntaler Hauptstraße, eine erstaunlich schmale und unauffällige Hauptstraße, erstreckte.

Zum Salzburger Weltkulturerbe gehört natürlich auch nur das Innere Nonntal, das noch vor einem Jahrhundert Vorstadtcharakter hatte und folgerichtig als „Vorstadt Nonntal“ bekannt war – sie lag außerhalb der Mauern, obwohl hier das Stadtrecht ausgeübt wurde. Bis in die Siebziger Jahre hatte das ganze Viertel noch das Echo eines dörflichen Charakters. Das lag nicht nur an den paar letzten Kühen im Petersbrunnhof. Es gab einen Supermarkt, den „Konsum“, und zwei Greißler, von denen einer von Frau Etter oder Frau Etta geführt wurde, eine magere Dame mit rötlichen Haaren, zu deren Laden man drei Stufen hinabstieg. Verließ man ihn, ertönte ihr automatisierter Abschiedsspruch „Auf Widder-Seh´n“, halb gesungen, immer im selben Tonfall. Ich ging gerne mit den Erwachsenen mit und formte beim Hinausgehen mit den Lippen ebenfalls ein „Auf Widder-Seh´n“, als antwortendes Echo. Noch besser als Frau Etta gefiel mir der Schuster Hackenbuchner, ein uralter, freundlicher Mann, bei dem es wunderbar roch, nach Schuhcremen und Pflegemitteln der Nachkriegszeit, die heute verschwunden sind. Mit seinem Tod endete auch die Handwerkerei in Nonntal – das Ende einer Tradition, da Nonntal im Mittelalter ja größtenteils von Wäschern, Schmieden, Bäckern, Müllern und den Knechten und Mägden des Klosters bewohnt war. Erst in der frühen Neuzeit hatten sich die ersten Bürger angesiedelt.

Nonntal war für mich das etwas verschlafene Zentrum – hier saß ich mit einem Freund auf den Stufen der Konditorei Klug und aß Tüteneis der Sorten Erdbeer, Vanille und Schokolade. Wir zeigten mit dem Finger auf die Vorübergehenden und lachten über sie, denn alte Menschen waren derart absurd! Die Konditorei Klug, heute zu einem provinziellen Pseudo-Tex-Lokal namens „Lemonchilli“ mutiert, bot zwar keine außergewöhnlichen Süßspeisen an, aber sie war eine zentrale Anlaufstelle der lokalen Jugendlichen – ebenso wie die Bäckerei Funder, die klebrige Stollwerk-Bonbons aus Karamell für 10 Groschen verkaufte. Das konnte sich jeder leisten. Aber es gab auch unfreundliche Orte, vor allem der Fahrradladen Maroné, dessen dicklicher Besitzer der natürliche Feind aller jungen Menschen zu sein schien. Daneben betrieb der alte Herr Kugler eine Tabak-Trafik, und nebenan einen kleinen Raum, der das Paradies für Kinder darstellte: ein echtes Spielwarengeschäft, das uns durch seine Auslage anzog. Wer etwas kaufen oder sich ansehen wollte, der musste Herrn Kugler in seiner Trafik aufsuchen. Wenn Kugler Zeit hatte, und er fand meistens Zeit, nahm er seinen Schlüssel, hängte ein „Komme gleich“-Schild an seine Trafiktür, ging voran und sperrte das Spielwarengeschäft auf. Mir ist schon seit vielen Jahren in Mitteleuropa kein „Komme gleich“-Schild mehr untergekommen.

Als ich sechzehn Jahre alt war, geschah ein fußballerisches Wunder: der SAK 1914, Salzburgs ältester und Nonntals einziger Fußballverein, stieg in die höchste Spielklasse Österreichs auf. Das Vergnügen dauerte nur ein knappes Jahr, die meisten Spiele gingen verloren, auch jenes, wo man gegen Rapid knapp vor Schluss 2:0 führte. Später stieg der Verein wieder ab, und wandert seither zwischen dritt- und vierthöchster Liga auf und ab. Als ich vor wenigen Wochen am Stadion vorbeifuhr – einst eine imposante historische Anlage mit einer kleinen Holztribüne, die man hätte denkmalschützen müssen, musste ich zu meinem Ärger zur Kenntnis nehmen, dass der gute Platz abgerissen und durch eine moderne Sportanlage ersetzt worden war. Auch die Kantine, das SAK-Stüberl, existiert nicht mehr. Später erzählte mir ein Freund, er habe im Jahr 2007 oder 2008 aus den Ruinen des SAK-Stüberls einen Salzstreuer mitgenommen. Mehr war nicht zu retten. Nun ist das natürlich ein nostalgischer Standpunkt, aber wenn ich an die Investoren denke, die einen historischen Sportplatz mit seinen unzeitgemäßen Spielerkabinen niederreißen lassen, und wenn ich daran denke, wer an den Eigenheimen verdient, die gleich am Rand davon plötzlich Platz finden, dann bin ich gerne Nostalgiker. Ich gönne den Investoren mit ihren „Ideen“ keinen Zentimeter der Stadt.

Trotzdem wäre es im Falle Nonntal borniert, Neuerungen abzulehnen. Vieles vom alten Nonntal, das es vor kurzem noch gab, ist heute nicht mehr aufzufinden, je weiter man ins Äußere Nonntal geht, desto deprimierender ist der Kahlschlag an Wiesen und Obstbäumen. Doch wenn man genau nachprüft, ist das Innere Nonntal, das Viertel unterhalb des Klosters nach einer langen Öde- und Dürreperiode während der Achtziger und Neunziger Jahre nun wieder im Aufschwung. Dort, wo Läden für immer geschlossen schienen, ziehen neue Geschäfte ein, und es gibt jetzt sogar einen Bioladen. Ich weiß allerdings nicht, ob das ein gutes Zeichen ist.

[Bild 4391] Justizgebäude

Das Tor zwischen der Innenstadt und Nonntal ist das Justizgebäude. Hier wird Salzburgs Recht gesprochen. Als ich klein war, erstellte ich Fahrpläne für das Obusnetz der Stadt, erfand Routen wie Itzling-Bahnhof-Zentrum-Friedhof und nannte die Station „Konflixgebäude“, was irgendwie ihrer wahren Natur entsprach. Immerhin steht dieser düstere Bau seit 1909 an der Wurzel der Alpenstraße – früher befand sich hier die Fronfeste, eine stadträndische Befestigungsanlage. Als ich klein war, fuhr die Linie 2 am Justizgebäude vorbei zum Kommunalfriedhof. Eines Tages war sie umbenannt – sie hieß nun Linie 5. Ich mochte die Idee nicht, dass jemand den Linien, die gleich blieben, plötzlich neue Namen verpasste. Ich mag die Idee bis heute nicht. Woran soll man sich denn halten?

[4395] Love Corner oder Corner

An dieser unscheinbaren Stelle, dem Love Corner oder Corner, spielten sich die Liebesdramen mehrerer Nonntaler Schülergenerationen ab. Wer dort auf der Mauer saß, traf eine Aussage, wer dort stehen blieb – oder vorbeiging – ebenfalls. Die Telefonzellen gehören zu einem urbanen Arrangement und wurden von den weisen Stadtvätern keineswegs zum Telefonieren an diese Stelle gesetzt. Das paradoxe am Love Corner oder Corner ist, dass er eigentlich gar keine Ecke hat. Er ist rund. War das Wort Love in den Siebziger Jahren noch populärer Bestandteil der volkstümlichen Bezeichnung, fanden wir Ende der Achtziger Jahre die zweiteilige Benennung hoffnungslos out. Man traf einander am Corner, und Love, das verstand sich von selbst.

[4400] Champignonstollen

In einem Höhlensystem, das noch im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller dienen musste, wurden die Nonntaler Pilze gezüchtet. Besucher hatten im Sommer den Eindruck, der Stollen sei eisig kalt, im Winter schien er jedoch sehr warm. Dabei hielt er seine Temperatur vermutlich bei konstanten 17 Grad. Es gab Champignons 1., 2. und 3. Wahl, was mich als Kind immer verblüffte, denn wieso verkaufen und kaufen die Menschen 3. Wahl, wenn es doch ganz einfach ist, 1. Wahl zu züchten? Es gab in meiner Jugend viele Paradoxa, eines befand sich zehn Meter neben dem Stollen: das Ehrenmal für die Weltkriegsvermissten, errichtet im Jahr 1953, an dem die Unbelehrbaren unter dem Deckmantel der Trauer ihre Aufmärsche in Uniformen und mit Kriegsdekorationen abgehalten haben. Als Kind schauderte mich vor den fahlen Kränzen, die dort niedergelegt waren. Solche Tafeln, notdürftig versteckte Rechtfertigung ideologischer Irrwege auf Kosten der Niedergeschossenen, teilweise auch Heroisierung von recht unheldischen Kanonenfutter-Opfern, sind bis heute Zeugnisse des Missbrauchs von Trauer. An die Opfer dieser Opfer wird an keiner Stelle im Nonntal erinnert.

[4401] Postamt

Natürlich gab es in Nonntal ein Postamt. Ich erinnere mich gut an den freundlichen, ultragenauen und etwas behäbigen Postbeamten Andreas Schmall. Wenn man dem seine Briefe anvertraute, konnte man sich sicher sein, dass sie ankamen, wie ja die ganze Post eine bombensichere Sache für die Ewigkeit zu sein schien. Eines Tages klopfte ein Mann an die Tür unseres Hauses, das einen halben Kilometer entfernt war. Er fragte, ob er telefonieren könne. Er blutete an der Hand. Wir erfuhren erst, als die Polizei kam, dass der Mann kurz vorher Herrn Schmalls Postamt überfallen hatte. Die Beute war nicht sehr hoch, der Bankräuber wurde gefasst, aber niemand aus unserer Familie war sich bei der Gegenüberstellung ganz sicher, ob es der richtige war. Einige Jahre später gehörte das Schmallamt zu jenen Postfilialen, die geschlossen wurden, weil die Post glaubte, sie sei defizitär. Inzwischen haben sie es geschafft, dass nichts, aber absolut nichts mehr an diesem Gebäude auf die Post hindeutet.

[4475] Petersbrunnhof

Ein magischer Ort meiner Jugend. Als winzig kleines Kind erlebte ich den Brand des alten Bauernhofs mit, die Flammen schlugen fünfzig Meter in die Höhe und das Knacksen höre ich, die Aufregung spüre ich heute noch. In diesen Jahren war der Petersbrunnhof ein großes Thema, ich besuchte mit meiner Großmutter die Kühe und Schweine, die in einem Stall gehalten wurden. Mit der letzten Viehzucht Nonntals war es allerdings bald vorbei. Mein Cousin und meine Cousine wurden, weil sie den Petersbrunnhof gemeinsam mit anderen politischen Aktivisten besetzten, verhaftet. Das war ein kleiner Nonntaler Skandal. Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als der US-Präsident Nixon Salzburg besuchte und jemand bei seiner Ankunft am Flughafen ein lebendes Schwein freiließ. Heute ist der Petersbrunnhof die Heimstätte des ehemaligen Laientheaters Elisabethbühne, und ein mittelschlechtes, aber pseudo-vornehmes Restaurant mit immerhin nettem Gastgarten hat sich eingenistet. Die Nonntaler hoffen auf einen Betreiberwechsel.

[4418] Akademiestraße

Etwas außerhalb des Inneren Nonntals, fast schon an der Grenze zum autonomen und dennoch nonntalerischen Freisaalgebiet, befindet sich die Akademiestraße, in der ich zwölf Jahre lang zur Schule ging. Das BRG Salzburg war kein Ort, an dem man besonders viel lernte. Unsere Lehrer waren größtenteils unfähig, uns auch nur die banalsten Grundlagen zu vermitteln, und ich geniere mich jetzt noch für das niedrige Niveau meiner Schulbildung. Das meiste, was ich gelernt habe, lernte ich außerhalb. Meine Eltern waren so vernünftig, mir Blanko-Unterschriften für „Entschuldigungen“ zu geben, so dass ich, wenn ich es nicht für nötig hielt, wegen Krankheit fernblieb. Ich machte das viel öfter, als die Eltern es ahnten, und so wurde ich erwachsen. Die Fehlstunden wurden im Prinzip toleriert, aber die Lehrer drohten den Dauerfehlenden immer wieder mit Konsequenzen – so dass meine Schul-Alpträume bis heute nicht in Prüfungssituationen bestehen, sondern in Szenarien, in denen mir erklärt wird, ich hätte zu viele Fehlstunden angesammelt, und ich müsse nun, trotz universitärem Doktortitel, die 7. und 8. Klasse wiederholen.

[4481] Nonntaler Hauptstraße 37A

Mein Lieblingshaus. Hier wohnte meine Großmutter. Vom architektonischen her ist es ein etwas verpfuschtes, aber solides graues Gebäude, das Besondere liegt unter anderem im Geruch des Stiegenhauses und in der Aufschrift am Haus gegenüber, „Gottes Leh’n“, die ich wochen-, monate-, jahrelang betrachtete, dem Blick zur Festung und dem schönen verwilderten Garten, der nach vorne geht. Ich erinnere mich an die größtenteils alten Menschen in diesem Haus, die Kaplans im Dachgeschoss, die etwas wunderliche Klavierlehrerein Frau Koidl, die kleine, agile Frau Schmid, die unzuverlässige Familie Ebster, die reiche, aber blasierte Frau Kutschera und die mäuschenartige Frau Mirus, die im Keller lebte, und von der es hieß, sie schriebe Kinderbücher.

[4486] Der Goldene Hahn

Hinter dem ehemaligen Restaurant „Zum Goldenen Hahn“, der später zu einer Musikschule wurde, gab es eine Wiese, auf der mein Vater mir ein Wiesel zeigte. Mich wunderte gar nicht, dass Wiesel auf Wiesen zu finden waren, ja, es schien mir geradezu logisch. Gegenüber war das (oder die?) Hotel Pension Stuber, an der mich faszinierte, dass sie sowohl Hotel als auch Pension sein konnte, je nach Bedarf, und dann noch die Aufschrift „Garni“ trug, die mir sympathisch war, die ich aber falsch interpretierte. Ich kannte nur die Granini-Säfte, und Garni schien mir eine Art verstümmelter Granini.

[4489] Hans-Donnenbergpark

Im Donnenbergpark stürzte ich mit dem Fahrrad und zog mir eine Gehirnerschütterung zu. Die Kurve, in der ich vom Rad fiel, ist später entschärft worden, allerdings erst dreißig Jahre später. Ein Japaner, offenbar einer der verirrten Touristen, die sich unabsichtlich weit von der Festung entfernt hatten, trug mich zu meiner Großmutter, und von dort wurde ich ins Spital transportiert. Dort blieb ich vierzehn Tage. Ein Ausbruchsversuch scheiterte und zerstörte meinen guten Ruf. In den Siebziger Jahren waren Kinderabteilungen von durch und durch perfiden Altkrankenschwester-Regimentern geprägt. Meine Erinnerung an diese beiden Wochen besteht in der rauen Stimmung, die mich umgab. In den Donnenbergpark ging ich weiterhin gerne, oft zu den Gräbern der Napoleonskrieg-Soldaten, von denen es hieß, die meisten hätten nie gekämpft. Das faszinierte mich. Oben auf den Wiesen spielte ich zwischen 1982 und 1986 fast jeden Tag Parkfußball.

[4503] Krauthügel und Henkerhäusel

Generationen von Stadtkindern lernten hier Schifahren und Schlittenfahren. Beides musste man gar nicht so sehr lernen, man fuhr. Vorher schrie man „Aus der Bahn, aus der Bahn, hinten hängt der Teufel dran!“, dazu lachte man diabolisch. Man kam heim mit gefrorenen Fingern und Zehen, denn man war immer zu lange im Schnee gewesen. Es dauerte, bis man auftaute. Im sogenannten Henkerhäusel, mitten am Krauthügel, hatte, wie jeder Nonntaler bei jeder Gelegenheit immer dazusagt, nie ein Henker gewohnt, sondern immer nur ein Krautwächter. Zu meiner Zeit wohnte ein alter Saufbruder in diesem damals noch baufälligen Häuschen. Er durchquerte jeden Tag das gesamte Nonntal, um in der Innenstadt eine Weinstube aufzusuchen, und er zog dabei eine heisere Spur des Schimpfens hinter sich her. Wir Kinder hatten Angst vor ihm, weil er die Fäuste schüttelte und schrie, dass man diese Probleme, welche auch immer, sehr leicht „mit drei Divisionen SS“ lösen würde. Niemand schritt je ein, vermutlich, weil jeder dachte, die Demokratie der Nachkriegszeit müsse diese Art von politischem Diskurs aushalten. Er war nicht ahndenswert – wiewohl er durchaus bemerkt und gerne zitiert wurde. Der Saufbruder vom Henkerhäusel hatte aber nie die Macht, auch nur eine der Divisionen, die er heraufbeschwor, anzulocken. Es gab einfach keine mehr.

[4493] Altersheim

Fast jeder Mensch, der älter war als ich, in Salzburg lebte, und dort weiterhin zu leben gedachte, sagte, dass sie oder er eines Tages in diesem Altersheim mit dem Zwiebelturm am Rand des Krauthügels wohnen wollte oder werde. Das gilt besonders für Nonntalerinnen und Nonntaler. Doch nur wenige, sozusagen nur die Auserwählten, schaffen es tatsächlich hinein. Es ist für mich der Inbegriff des Altersheims, weiß, weitläufig, offen nach allen Seiten hin und trotzdem ganz rätselhaft. Ich selbst habe aus irgendeinem Grund nie einen Fuß in das Gebäude gesetzt. Weiter unten, dort, wo die Pizzeria Camino an der Straßenkreuzung steht, das einzige Lokal in Nonntal, das halbwegs annehmbares Essen serviert, verläuft die Grenze zwischen Innerem und Äußerem Nonntal. Früher stand hier ein Grenzstein, an dem die Vorstadt endete, das Stadtrecht ebenfalls, und das Gebiet von verstreuten Bauernhöfen und Landgütern begann. Ein paar Schritte weiter beginnt eine Siedlung, in der ich einmal fast von einem herabstürzenden Blumentopf erschlagen wurde. Das wäre schade gewesen, nicht nur für mich, auch für den Stadtteil, da dieser Nonntaler Parcours niemals geschrieben worden wäre.